Bundeskanzlerin Angela Merkel hat mit ihrer Aussage über das „Neuland Internet“ im deutschsprachigen Netz eine interessante Reaktion ausgelöst. Blogs, Tweets und andere Formen der digitalen Kommunikation nehmen die Aussagen der Kanzlerin auf, um vor allem Bashing zu betreiben. Dabei muss ich in der Sache Frau Merkel unbedingt Recht geben: das Internet ist in der Tat „Neuland“.

  • Hinsichtlich der Reaktionen in verschiedenen Blogs wird der Aussage von Merkel viel unterstellt: es sei ein Neologismus, der im Prinzip zum Ziel habe das Internet zu einem rechtssicheren Raum zu machen (siehe hier)
  • es sei Unwissenheit der Kanzlerin (und/oder der Politikerinnen), die insbesondere die „Kenner“ des Internets gerne postulieren
  • oder aber die Aussage wird zum Anlass genommen, damit sich „Kenner“ des Internets einer gewisse Selbstreflexion unterziehen (siehe hier)

Das Gros der Aussagen bezieht sich daher im Kern auf jemanden, der anscheinend keine Ahnung von einem Kulturraum zu haben scheint, mit dem wiederum sich die „Kenner“ mehr oder weniger vertraut fühlen.

Sicherlich kann es durchaus sein, dass Merkel sich mit dem Thema Internet noch nicht besonders intensiv beschäftigt hat. Dieser Beitrag soll sich jedoch nicht auf die Person Merkel konzentrieren, sondern auf ihre Aussage, die ich zur Erinnerung noch mal kurz ins Gedächtnis rufen will:

„Das Internet ist für uns alle Neuland, und es ermöglicht auch Feinden und Gegnern unserer demokratischen Grundordnung, mit völlig neuen Möglichkeiten und völlig neuen Herangehensweisen unsere Art zu leben in Gefahr zu bringen“ (Quelle).

Erst einmal ist Merkels Äußerung ein politisches Statement, das in der Union nicht neu ist und zu recht kritisch gesehen werden kann. Doch aus meiner bildungsphilosophisch geprägten Sicht sehe ich viel Wahres in Merkels Aussage. In der Tat ist das Internet (oder genauer das WWW) kein homogener und vollständig kontrollierter Raum. Es ist so gesehen ein Schmelztiegel der Kulturen und eben auch nach westlich-demokratischen Verständnis ein Ort an dem sich gefährliche Ideologien verbreiten und organisieren können. Im Allgemeinen aber ist das Internet zunächst ein Raum, in den Unbestimmtheitsmomente normal sind. Nervige Popups, lustige bis grenzwertig empfundene Memes, befremdliche Riten aus anderen Kulturkreisen oder eine Mischung aus allem. In diesem Sinne würde ich sogar behaupten, dass die kulturelle Inhomogenität dazu führt, dass Unbestimmtheit eines der konstitutiven Momente des WWW ist. Damit beherbergt sie auch die Möglichkeit „unsere Art zu leben in Gefahr zu bringen“; und das meine ich durchaus in einem bildungstheoretisch positiven Sinne. Erst wenn wir Differenzerfahrungen machen, haben wir die Möglichkeit unsere Angewohnheiten, Bedeutungsschemata, unsere Sicht auf die Welt reflexiv einzuholen. Das das nicht immer nur mit positiv empfundenen Konsequenzen verbunden sein muss, im Sinne des eher positiv konnotierten Begriffs „Bildung“, liegt dabei auf der Hand.

Hinsichtlich der sich aus der Aussage entfalteten Diskussion fiel daher meine Verwunderung weniger auf Merkels Aussage, sondern vielmehr auf die Reaktionen aus dem Netz, auf die „Kenner“. Der gängige Grundtenor ist dabei, dass das Neuland, das Merkel entdeckt habe ein alter Hut sei (salopp formuliert). Hinsichtlich meiner Annahme, dass Unbestimmtheit sozusagen eine Grundkonstante des WWW ist, fragte ich mich deshalb welches Verständnis die Protagonisten vom Internet haben könnten. In dieser Frage bin ich allerdings noch uneins, weil die teils polemischen Kommentare sicherlich nicht die innere Einstellung der Protagonisten zum Netz widerspiegelt. Wenn ich mich jedoch allein auf die Aussagen konzentriere, dann müsste man diese Protagonisten mit Inselbewohnern vergleichen. Diese wundern sich, dass jemand für sie fremdes ihre bekannte Insel „Neuland“ nennt. Jedoch ist den Inselbewohnern nur in einer endlichen Maße bekannt, welche Inseln, Subinseln und Metainseln es gab/gibt/geben wird. Das umschließt auch jene Inseln, die vielleicht niemals sein werden und die man aus eigenen Einstellungen oder kultureller Differenz (z.B. Sprache) nie betreten kann/wird. Und es ist für mich schon fast eigenartig, dass Merkel mir diesen Sachverhalt durch ihre Aussage wieder bewusst gemacht hat. In dieser Relation gesehen, muss man Merkel durchaus Recht geben, dass wir alle Neuland betreten. Oder, um den relationalen Charakter meiner Argumentation noch etwas herauszuheben, dass wir alle Neuland <setzen Sie das Verb Ihrer Wahl ein> können.