Ich mag dieses Wort „eigentlich“ nicht. Aber in diesem Fall muss ich es gebrauchen. Denn eigentlich wollte ich für die DGfE-Tagung „Universität 4.0 – Folgen der Digitalisierung akademischer Foschung und Lehre“ eine einfache Tagungszusammenfassung machen. Doch dann kam die Tagung und ich musste umdenken. Denn diese Tagung zeigte mehr als bloße Vorträge. Sie zeigte die innere Zerrissenheit der Erziehungswissenschaft, deren Zerwürfnislinien irgendwo zwischen Rousseau (Zurück zur Natur) und Google (Zurück in die Zukunft) liegen. Um diesem Eindruck Ausdruck zu verleihen, werde ich diesen Beitrag entlang der beiden Tagungstage gliedern und mit meinen Überlegungen (hoffentlich nachvollziehbar) daran anknüpfen.

1. Das Nicht-auf-den-Punkt-bringen

Der erste Tag der Tagung war maßgeblich dafür verantwortlich, dass mein ursprünglicher Plan nicht funktionierte. Die einleitenden Worte von Burkhard Schäffer deuteten bereits in eine Richtung, die an meinen erziehungswissenschaftlichen Erwartungen vorbei gingen. Um es knapp zu machen, wurde lediglich die 4.0-Definition, die erstmal mit Bildung wenig zu tun hat, hervorgebracht. Gleich darauf folgten vier(!) Tracks, von denen ich den Track Hochschuldidaktik und Digitalisierung besuchte. Hierbei wurde ich auf das Strukturmermal „Masse an Text“ und Inhalt in den Präsenationen aufmerksam, mit denen die RednerInnen ihre 30 Minuten füllten. Didaktisch und rhetorisch würde ich sagen: verbesserungsfähig. Dabei waren die vorgestellten Forschungsprojekte im Kern für mich interessant:

  • Vortrag 1 untersuchte mittels qualitativer Methoden, wie Lehramtsstudierende qualitative Forschung online gestützt erlernen.
  • In Vortrag 2 ging es um die Ermöglichung von „Wissensumgebungen“ die durch KI-Elemente angereichert werden sollten.
  • Und in Vortrag 3 ging es um eine Systematisierung von didaktischen Prozessen für den Aufbau einer didaktischen Ontologie.

Gegen diese Einblicke in ihre Forschungsarbeiten arbeiteten jedoch die Referenten selbst, indem sie sehr viel Text unterbrachten, dazu ihr Redemanuskript teilweise sehr schnell vortrugen (irgendwie muss ja auch alles gesagt werden) und Begriffe wie z.B. Wissen, Lernen und Bildung unscharf erschienen. Ich weiß nicht ob es am eigenen Anspruch der Referenten lag oder an den tradierten disziplinären Vortragspraxen. Es zeigt jedoch, dass die Erziehungswissenschaft ein Kommunikationsproblem hat. Sie kommt nur selten auf den (konstruktiven) Punkt. Das zeigte sich auch in den teils sehr scharfen, fast verletzenden, Kommentaren arrivierter ProfessorInnen nach den Vorträgen in diesem Track. Insofern empfand ich diesen Track als Negativsignal für alle, die ihre Forschungsergebnisse konstruktiv in die Community einbringen wollen.

2. Die Spaltung der Community

Nach diesem eher be- und erdrückenden Track folgte das Highlight des ersten Tags: das Streitgespräch zwischen Gabi Reinmann und Roland Reuß. Schnell stellte sich dabei heraus, dass zwischen den Protragonisten gar keine großen Differenzen herrschten. Reuß, seines Zeichens Literaturwissenschaftler, hatte im Kern auch nur eine Botschaft: „ich will bestimmen, wie ich veröffentliche.“ Das sehe ich ein und man muss zu seiner Verteidigung sagen, dass er anderen freistellt, ob sie ihre Veröffentlichungen als open access anbieten. Jedoch nahm der Dialog in seinem Verlauf eine eigenartige Wendung im Vortragsraum. Dies lag meiner Meinung nach in dem starken Entgegenkommen von Reinmann an Reuß‘ Positionen. Twitter und Facebook-Accounts – haben beide zum Glück nicht. Analog und Digital – muss man strikt trennen. Bücher – ja natürlich werden auch noch Bücher gelesen. Denn so Reuß: nur wer viele Bücher gelesen habe, sei gebildet. In der Folge sei naturwissenschaftliche Forschung der eigentliche Feind – im Verbund mit Politik und kalifornischen Herrschaftssystemen (aka Google). Außerdem kam es zu den folgenden zwei Aussagen seitens Reuß:

Diese Aussagen trafen zu meiner Überraschung im Publikum auf fruchtbaren Boden. So wurde durch eine Teilnehmerin auch dieses „E-Learning“ als Schaumschlägerei bezeichnet. Garniert mit der Frage „Wozu brauche man denn eigentlich diesen Begriff?“. Ich war fast geneigt zu erwidern, dass das auch auf den Begriff der Bildung zutreffen könne, der hier zum Vorschein kam. Aber ich schaute erstmal auf Twitter und stellte fest, dass es da (zum Glück) noch kritische Stimmen seitens des „wissenschaftlichen Nachwuchses“ gab. Dies zeigt einerseits ein starkes Generations- und Kommunikationsproblem. Andererseits wunderte ich mich aber auch über jenen Teil der Anwesenden, die kein Nachwuchs mehr waren, und sich in den letzten Jahrzehnten

  1. gegen die analog-digital-Trennung aussprachen und
  2. sich auch gegen den dort gefeierten Begriff einer hohen und kanonischen Bildung stellten und diese als Prozess der Veränderung von Selbst- und Weltverhältnissen fassen (also unabhängig von der Menge der einstudierten Goethe-Zitate).

Doch von dieser Gruppe kam nichts. Ich weiß nicht, ob es diesen Personen gelinde gesagt einfach „zu blöd“ war dieses Thema wieder anzureißen. Aber es scheint, als gebe es da durchaus einen dringenden Redebedarf. Denn dieser Abend war in der Präsenz (bis auf wenige Ausnahmen) für mich ein latentes Zurückschreiten in den Elfenbeinturm des deutschen Idealismus, der letztlich auch „gebildete“ Leute hervorbrachte, die den Holocaust duldeten und durchführten. Das mag überzogen klingen, aber diese rein affirmative Stimmung(smache) in dieser Diskussion wirkte befremdlich. Gerade vor dem Hintergrund, weil die Medienpädagogik und die sozialwissenschaftlich orientierte (Medien-)Bildungsforschung seit Jahrzehnten wesentlich weiter ist/sein müsste.

3. Die praktische Wende

Der zweite Tag gab dann wieder ein wenig Grund zur Hoffnung. Ulf-Daniel Ehlers eröffnete in seiner Keynote „Hochschulbildung digital“ konstruktive Aspekte jenseits der Analog-Digital-Debatten. Denn durch den erhöhten gesellschaftlichen Wert einer akademischen Ausbildung und die Digitalisierung müssen Hochschulen sich weiterentwicklen. Hierbei würden drei Momente die Ausformung dieser Weiterentwicklung bestimmen:

  1. es gebe keine statischen Curricula mehr. Es gebe vielmehr eine Vervielfältigung von Profilen, die unter Anderem auch „Perspektive Taking, Einstellungen und Werte“ in den Vordergrund stellen würden. Eine zentrale Schlüsselkompetenz sei dabei, Verantwortung zu übernehmen.
  2. würden akademische Abschlüsse nicht mehr aus einer Hand vergeben und angeboten werden. Dem Campusdenken müsse eine Vielcampusmentalität folgen.
  3. gebe es zudem eine zeitliche Entkopplung der Ausbildung. Lebenslanges Lernen und lebenslange employability, die einen episodischen Charaketer haben, würden die klassische „Einmal“-Ausbildung ersetzen.

Ehlers stellte abschließend fest, dass Hochschulen keinesfalls passiv seien, sondern maßgeblich durch diese Momente die (digitale) Zukunft der Gesellschaft mitgestalten könnten. Dafür lohne es sich auch zu kämpfen.

Abschließend besuchte ich auf der Tagung den Track Gamification. Hier zeigte sich, dass es durchaus auch Felder gibt, in denen sehr konstruktiv mit digitalen Möglichkeiten umgegangen wird. Von der Umreißung des Gegenstands, über erste Evaluationen von Gamification bis hin zu Educational Design Research entfaltete sich ein durchaus produktives Feld, dass mich auf neue Ideen brachte. Insbesondere vor dem Hintergrund der Frage, wie man weg von reinen Motivations- und Belobigungssystemen hin zu einer spielerisch-reflexiven Auseinandersetzung kommen kann.
Hierbei sehe ich ein gewisses Potenzial in regelgeleiteten Spielsituationen (ludus), in denen Lernende vor emergente Aufgaben gestellt werden. Hier ein einfaches Beispiel: Studierende, die sich mit Lerntheorien auseinandersetzen, bekommen die Aufgabe eine Lerntheorie zu verwenden, auf deren Basis eine bestimmte Zielgruppe mit einem bestimmten Medium ein bestimmtes Lernziel erreichen muss. Diese vier Variablen werden durch einen Zufallsgenerator (im Notfall eine Auslosung) zu einer Gruppenaufgabe geformt, die dann heißen könnte „Nutzen Sie den Behaviorismus, um ProfessorInnen mittels Twitter das humboldtsche Bildungsideal näher zu bringen“. Was im ersten Moment eigenartig und abwegig klingt, könnte zu kreativen Lösungen führen, die wiederum eine umfassende Auseinandersetzung mit Paradoxien mit sich bringen würde.

4. Ohne Bildung ist alles nichts

Ich muss gestehen, dass diese Tagung für mich Irritation und (Ko-)Konstruktion war. Sie führte mir vor Augen, welche Verwerfungen sich durch die Erziehungswissenschaft ziehen. Wie konservativ und fortschrittlich zugleich die Disziplin in sich ist. Dass es neben einem „wir müssen das kritisch reflektieren“ auch ein „wir probieren das einfach mal aus“ gibt. Die Umstände für diese Einstellungen sind vielschichtig. Und manchmal (wie am ersten Tag der Tagung) fühlt man sich wie im falschen Film. Dabei liegen gerade im Kontext digitaler Artikulationen und Interaktionen (zum Beispiel Videospiele, die über den von Reuß postulierten „PDF-Porno“ weit hinausgehen) methodisch wie auch theoretisch anspruchsvolle Forschungsfelder, die einerseits eine Kooperation verschiedener Disziplinen erfordern und andererseits unsere Vorstellungen von Erziehung und Bildung verändern werden. Es ist keinem geholfen sich auf de facto bewahrpädagogische Positionen zurückzuziehen, die postulieren, dass es einen digitalen Datenkapitalismus oder ein Google-Herrschaftsregime gebe. Vielmehr steht die Erziehungswissenschaft meiner Meinung nach in der Pflicht, originär erziehungswissenschaftliche Fragestellungen im Kontext der Digitalisierung zu untersuchen und praktische (spielerische) Erfahrungen mit medialen Strukturen und digitalen Methoden zu machen, um die Kernbegriffe zu respezifizieren. Ansonsten wird vielleicht doch Google die Erziehung und die Bildung übernehmen, während eine Disziplin ihr Heil der Freiheit eines Elfenbeinturms sucht. Oder um es mit einem Tweet zu sagen:

PS: Und wer noch mehr lesen und gucken möchte: